Leseprobe



Schwärze. Schmerzhaftes Auftauchen. Was zum Teufel geht vor sich, wenn Dunkelheit nicht länger Freund, sondern Feind ist? Wie ist es nur möglich, dass diese abscheulichen niederen Kreaturen ihn überwältigt und auf eine stählerne Bahre gefesselt haben? Diese schmutzigen Viecher sollten seine Diener sein und nicht seine – er lässt den Blick so schnell und weit wandern, wie es seine Fixierung zulässt – Folterknechte! Sind das wirklich Obduktionsbestecke? Liegen da etwa Schweißbrenner? Eins, zwei, drei … sieben Stück! Wie zufällig abgelegt. Verdammte Scheiße!
„Guten Tag“, sagt ein kleiner Blonder auf Deutsch. Er hat ein Jungengesicht und himmelblaue Augen. Theatralisch langsam zieht er quietschend Gummihandschuhe an.
Bindet mich sofort los!, befiehlt der Vampir mit dunkel drohenden Unterton und versucht, die Botschaft in die Gehirne aller Niederen zu schießen. Vereinzelt ist Gelächter im Raum zu hören.
„Nein.“ Der Blonde grinst und spricht einige Sätze, von denen er kein Wort versteht.
„Sorry, I don’t speak German“, sagt er und verachtet sich für den kleinen Tropfen Unterwürfigkeit, den er in seiner eigenen Stimme hört. Gönnerhaft winkt der Blonde einen Schlaksigen herbei, der eine üble Wucherung am Kopf hat. Er kann es durch die Mütze sehen. Sehen und wittern, wie es nur ein Vampir kann. „Du bist in unsere Stadt gekommen und hast drei Mädchen bestialisch gequält und bis zum letzten Tropfen ausgesaugt. Das gehört sich nicht“, übersetzt der Schlaksige in einem altmodischen Ostküstendialekt. Er klingt wie aus einem Gangsterfilm, Chicago, ja genau, so hat man früher in Chicago gesprochen.
„Hört mal“, sagt er und lässt seine Stimmbänder dabei sanft vibrieren, „wenn ihr mich jetzt befreit und gehen lasst, müssen wir nie wieder darüber reden. Es wird keine Konsequenzen für euch haben. Es kann sich nur um ein Missverständnis handeln. Nicht wahr?“ Er schnurrt die Worte fast schläfrig. Jeder Mensch würde sich bei dieser Frequenz die Kleider vom Leib reißen oder freiwillig in den Tod springen. Auch die Niederen müssten eigentlich ihren Widerstand lockern. Aber außer einem gehässigen Kichern ist nichts zu hören. Es ist ihm unmöglich, in ihre Gedanken zu dringen. Er schickt seinen Befehl nun wie eine Schallwelle aus. Wieder passiert nichts. Woher nehmen sie verflucht nochmal diese Kraft, ihm zu widerstehen? Was hier passiert, ist vollkommen gegen die Natur. Als wollten sich Kellerasseln zur Weltherrschaft aufschwingen!
„Macht mich sofort los!“, dröhnt er nun in einer Lautstärke, bei der menschliche Ohren zu bluten beginnen.
„Nein.“ Dem Blonden ist keine Verunsicherung anzumerken. Die blauen Augen schieben sich in sein Sichtfeld. Dieser Idiot muss lebensmüde sein; sich einem Vampir auf diese Weise zu nähern, ähnelt der Idiotie eines Menschen, seelenruhig den Kopf in ein Tigermaul zu legen. Seine Zähne fahren aus und er versucht nach oben zu schnellen. Doch seine Fesseln sitzen fest und er kann sich nicht rühren.
Der Blonde kramt in den Utensilien des Obduktionsbestecks. Nacheinander hält er verschiedengroße Skalpelle ins Licht. Aha, denkt er, das Zeigen der Folterinstrumente. Er will es höhnisch denken, aber da ist auf einmal dieses Gefühl, das er lange nicht gekannt hat: Furcht.
Der Blonde hat sich für ein Schneidewerkzeug entschieden. Er spricht einige Sätze in lockerem Ton, die der Schlaksige dann übersetzt.
„Wir können nicht dulden, dass jemand in unsere Stadt kommt und sich so benimmt, wie du es getan hast. Wenn wir dich laufen ließen, würdest du nur immer weiter morden. Du hast ein Problem mit deinen Trieben. Ist dir das bewusst?“
Der Blonde setzt sich eine Atemschutzmaske aufs Gesicht und schneidet ihm urplötzlich und ohne Vorwarnung die Haut am Unterarm auf. Man kann das Gewebe ploppen hören. Er schreit laut auf. Nicht aus Schmerz – ein solcher Schnitt kann einem kräftigen Vampir nicht gefährlich werden – sondern vor Überraschung. Auch kann etwas Übertreiben wohl kaum schaden, um diese Asseln zu täuschen.
„Schatt app!“, fährt ihn der Blonde an. „Ei noh ä lot abaut ju Wämpeias“, sagt er mit einem schauderhaften Akzent, einer Mischung aus Dr. Frankenstein und Dr. Strangelove. Der Schlaksige übersetzt weiter: „Und ich weiß ALLES über eure Regenerationsfähigkeit. Mir kannst du nichts vormachen.“ Er blickt abwechselnd auf die Stoppuhr, die er zur Hand genommen hat und auf den Schnitt im Arm, von dem der Vampir weiß, dass er sich in rasantem Tempo schließt. Das Ergebnis der Beobachtung wird sorgfältig in einen Bogen auf seinem Klemmbrett eingetragen. „Du glaubst, du könntest dich von allem erholen, was wir dir antun werden. Aber das ist ein Irrtum. Das denkst du nur, weil es noch nie ernst für dich geworden ist.“ Er hört Gas ausströmen und das Klicken eines Anzünders. Irgendwo im Raum ist ein Schweißbrenner angestellt worden. Das Zischen nähert sich und er fühlt die Hitze an seinen nackten Füßen. „Du denkst, wenn wir dir einen Fuß abschmoren, wenn wir das Gewebe regelrecht verdampfen, dann hättest du ihn regeneriert, bevor wir beim zweiten ankämen. Stimmt es?“ Es stimmt. Aber das wird er nicht zugeben. Der Anblick der vielen Schweißbrenner ergibt einen grässlichen Sinn. Die Hitze nimmt zu. Eine der Missgeburten lässt seinen großen Zeh in Luft aufgehen. Und es tut weh. Nicht gerade höllisch, aber deutlich. Am Kopfende der Bahre ertönt ein weiteres bösartiges Zischen. Verdammt nochmal, ist er etwa zusammengezuckt? Der Blonde notiert wieder etwas auf dem Klemmbrett. Er zieht die Maske vom Gesicht und grinst. „Meinen Berechnungen nach werden wir sechs Schweißbrenner benötigen. Vielleicht noch einen mehr. Sieben Schweißbrenner gleichzeitig und es bleibt nichts übrig. Ziemlich lausiges Ende für einen stolzen Vampir, was?“
„Wir können uns doch sicher anders einigen. Was meint ihr?“ Er bezwingt das aufsteigende Gefühl, der, der – ist es Panik? Nur ruhig bleiben. Er ist schneller, klüger und grausamer als diese Kreaturen. Es braucht nur eine winzige Gelegenheit, um das Blatt zu wenden. Und keiner von ihnen wird das überleben.
„Wir müssen uns nicht mit dir einigen. Ein ‚du‘ gibt es bald nicht mehr.“ Eine Tür wird geöffnet und zwei der Asseln schieben eine weitere Metallliege in den Raum. Die Räder ruckeln winselnd über die Fliesen. Die Liege kommt neben seiner zu stehen.
Er weiß es schon, bevor sie das Tuch zur Seite ziehen. Natürlich weiß er es. Als Vampir muss man zwischen Leben und Tod unterscheiden können. Und das Ding neben ihm ist ein menschlicher Kadaver, etwa fünf Tage alt. Wenn ein Körper gekühlt wird, verschwinden die Hinweise, die die Bestimmung eindeutig machen.
„Wi häv ä surpreis for ju.“ Von wegen, denkt er, lässt aber trotzdem das Tuch nicht aus den Augen. Dann durchzuckt es ihn; sie werden doch nicht etwa – Linda… Nein. Es ist nicht das Gesicht seiner Managerin, das der Blonde mit dem eisigen Blick enthüllt, sondern … sein eigenes. Er schreit nicht. Er kann auch nicht sprechen. Er betrachtet sich selbst mit größter Aufmerksamkeit und wachsender Verwirrung. Wie haben die Niederen das nur hinbekommen? Ihm ist, als wären das wirklich seine toten Augen unter dem prägnanten Schwung der Augenbrauen, als sähe er seine eigene perfekte Nase über dem weichen und gleichzeitig spöttischem Mund. Selbst der Dreitagebart hat die gleichen Auslassungen und Macken wie seiner.
„Wie, wieso?“, stammelt er. Der Blonde spricht und der Schlaksige übersetzt: „Wir haben ein besonderes Talent, von dem die Welt nichts weiß und auch nie etwas erfahren wird. Das kommt nicht von heute auf morgen, es ist viel Übung nötig. Na ja, was weißt du schon davon? Du interessierst dich nur für sie, solange sie leben. Danach wirfst du sie weg. Aber wir nicht.“
„Was, wieso?“, bringt er hervor. Der Blonde schiebt mit dem gummibehandschuhten Zeigefinger die Lippen des Toten auf. „Eine perfekte Kopie, nicht wahr? Bis auf die Zähne. Aber das wird zum Glück niemandem auffallen.“
Was er nun fühlt, ist eindeutig Todesangst. Für einen Vampir ist das einigermaßen widersinnig. Aber auch wenn er nicht wirklich lebendig ist, fürchtet er sich nicht weniger vor dem Erlöschen seiner Existenz als Menschen vor dem Sterben. „Es ist ungünstig, wenn es keine Leiche gibt. Das ist ja allgemein bekannt. Wenn wir dich aufgelöst haben, werden wir unseren Freund hier“, er lässt den Kopf des Toten zustimmend nicken, „an einen Ort bringen, an dem er leicht gefunden werden kann. Sicherlich traurig für deine Fans, aber doch auch eine gute Gelegenheit von ihrem Idol Abschied zu nehmen. Bestimmt sorgt jemand für ein pompöses Begräbnis ganz nach deinem Geschmack. Wir haben einen wirklich schönen alten Friedhof hier in Köln, Melaten heißt er, monumentale Gräber und herrliche alte Bäume. Funeribus Agrippinensium Sacer Locus. Ein wunderbarer Ort für die letzte Ruhe. Aber ich schätze, man wird dich nach Amerika überführen. Nach Hause.“
Nach Hause. Wie absurd ihm nun die Idee vorkommt, er hätte hier sesshaft und glücklich werden können. Wer hätte gedacht, dass diese Stadt mitnichten ein niedliches Märchenland ist, das dornröschenverträumt auf ihn als Herrscher gewartet hat, sondern im Gegenteil ein Ort, der von grässlichen Kreaturen bewacht wird, die sich jeder natürlichen Ordnung entzogen haben. Ein weiterer Schweißbrenner wird angeworfen.
„Lasst mich gehen. Eure Stadt werde ich nie wieder betreten. Bitte, bitte, habt Gnade!“ Er winselt. Es ist ihm egal.
Der Blonde deutet einem Buckligen näherzukommen, der bislang reglos dagestanden hatte. Er tritt näher und schnüffelt. „Ich frage dich. Ein einziges Mal. Und du antwortest lieber ehrlich, denn unser Igor kann Lügen riechen.“ Igor? Haben diese Kreaturen womöglich Sinn für Humor? Der bucklige Igor verzieht jedenfalls keine Miene. „Also: Wirst du kampflos unsere Stadt auf dem schnellsten Weg verlassen und schwörst du, nie wieder zurückzukommen?“ Oh, köstlicher Hoffnungsschimmer!
„Ich werde diese Stadt verlassen, keinem wird etwas geschehen und ich komme nie wieder zurück. Nicht in dieses Land, ja nicht einmal mehr auf diesen Kontinent. Das schwöre ich.“ Die Erlösung ist zum Greifen nah! Hoffnung, Hoffnung, du wankelhafte Braut. Aber Moment mal, wenn sie ihn laufen lassen, kann ihm der Tote mit dem eigenen Gesicht womöglich noch nützlich sein. Es wäre der perfekte Abgang. Besser kann man ihn nicht inszenieren. Den Abschied von der Bühne, das Ende des Rockstars, alles überfällig. Nun mach schon, Igor, denkt er, sprich mich frei!
Die Spannung im Raum ist fast hörbar. Spürbare Impulse, die den Raum durchkreuzen und von den giftgrünen Kacheln zurückgeworfen werden.
„Igor? Was sagst du? Ist das die Wahrheit?“ Der Bucklige zieht geräuschvoll die Luft ein und aus. Sehr langsam öffnete er den Mund und zäh kommen die Worte aus seinem schiefen Maul getropft: „Nein. Er lügt.“
Jetzt ist die Spannung nicht nur fühlbar, es geht ein Raunen durch den Raum. Gemurmel. Worte, die er nicht versteht. Stimmen, die lauter werden. Es ist immer wieder von Klunga die Rede. Klunga, Klunga. Wer oder was ist das?
„Lasst mich mit Klunga sprechen“, bettelt er aufs Geratewohl. „Irgendetwas stimmt nicht, ich habe nicht gelogen, hört mal…“
„Schatt app!“, fährt ihn der Blonde an. Ja, denkt er, ich halte lieber die Klappe, solange die Kreaturen diskutieren und, wie er hofft, unterschiedlicher Meinung sind. Vielleicht ist Igor in Sachen Lügendetektor unter ihnen doch keine unumstrittene Kapazität.
Der Blonde schafft Ruhe. Er zeigt auf ihn und lässt sich vom Schlaksigen berichten, was er gesagt hat.
„Es wird niemand anderes kommen, mit dem du glaubst, verhandeln zu können. Igor hat sich noch nie geirrt. Du lügst also.“ Er schreit gegen die Worte des Blonden an, versucht den Blick aus den eisblauen Augen aufzufangen. „Nein, nein, nein!“ Stammen diese gequälten, jaulenden Laute wirklich von ihm?
„Einem lügenden Vampir darf man nicht trauen. Wir wären nicht mehr hier, wenn wir das nicht beherzigen würden. Du hattest deine Chance. Was jetzt kommt, ist unvermeidlich.“ Er zieht langsam die Gummihandschuhe aus und tauscht sie gegen festen Arbeitsschutz. Überall zischt es. Ein Schweißbrenner nach dem anderen lodert auf. „Sorry“, sagt der Schlaksige und zuckt bedauernd mit den Schultern, „so ist es nun mal.“
Die Hitze kommt und mit ihr die Schmerzen. Schmerzen, wie er sie nie zuvor erlebt hat und wie er sie sich in den finstersten Albträumen nicht hätte vorstellen können. Es gibt keine Erlösung. Irgendwann wird es dunkel. Mit einem letzten schrecklichen Schmerzenshauch löst er sich auf und fällt in die Finsternis.

Illustration von Daniel Bechthold

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